Ästhetik

Die Kunst wirkt als zeitweiliges „Quietiv [Beruhigungsmittel] des Willens“. Diese Ästhetik erreicht in der Weltverneinung ihren Höhepunkt. Dem Menschen – als höchster Form des sich in der Erscheinungswelt objektivierenden Willens – ist die Möglichkeit gegeben, den Willen und das Leiden aufzuheben und so in einen Zustand des „Nichtseins“ (eine Art Nirwana) zu gelangen. Das „wahre Kunstwerk“ hilft ihm dabei, indem es das „innere Wesen“ einer Sache, seine Idee, bewusst macht und dem Betrachter auf diese Weise zu einer objektiven Sichtweise verhilft, die ihn aus seiner Subjektivität, seinem „Wollen“, emporhebt. Unter der Gewahrung einer Idee versteht Schopenhauer dabei die Antizipation eines Anschaulichen, seine Ahnung, welche durch das Kunstwerk gereizt wird.

„Daß wir Alle die menschliche Schönheit erkennen […], im ächten Künstler aber dies mit solcher Klarheit geschieht, daß er sie zeigt, wie er sie nie gesehen hat […]; dies ist nur dadurch möglich, daß der Wille, dessen adäquate Objektivation, auf ihrer höchsten Stufe, hier beurtheilt und gefunden werden soll, ja wir selbst sind. Dadurch allein haben wir in der Tat eine Anticipation Dessen, was die Natur […] darzustellen sich bemüht; welche Anticipation im ächten Genius von dem Grade der Besonnenheit begleitet ist, daß er, indem er im einzelnen Dinge dessen Idee erkennt, gleichsam die Natur auf halbem Worte versteht und nun rein ausspricht, was sie nur stammelt.“[14]

Die Musik nimmt eine besondere Stellung ein, da sie nach Schopenhauer ein objektives Abbild allen Wollens dieser Welt zu geben vermag, wobei der Tonlage die Schlüsselrolle für die Unterscheidung der unterschiedlichen Willensformen zukommt − je tiefer, desto näher an den Gesetzen der Materie, je höher, desto näher an den Beweggründen des Menschen:

„Ich erkenne in den tiefsten Tönen der Harmonie, im Grundbaß, die niedrigsten Stufen der Objektivation des Willens wieder, die unorganische Natur, die Masse des Planeten. Alle die hohen Töne, leicht beweglich und schneller verklingend, sind bekanntlich anzusehen als entstanden durch die Nebenschwingungen des tiefen Grundtones […] Dieses ist nun dem analog, daß die gesammten Körper und Organisationen der Natur angesehen werden müssen als entstanden durch die stufenweise Entwickelung aus der Masse des Planeten: diese ist, wie ihr Träger, so ihre Quelle: und das selbe Verhältniß haben die höheren Töne zum Grundbaß. […] Nun ferner in den gesammten die Harmonie hervorbringenden Ripienstimmen, zwischen dem Basse und der leitenden, die Melodie singenden Stimme, erkenne ich die gesammte Stufenfolge der Ideen wieder, in denen der Wille sich objektivirt. Die dem Baß näher stehenden sind die niedrigeren jener Stufen, die noch unorganisch, aber schon mehrfach sich äußernden Körper: die höher liegenden repräsentieren mir die Pflanzen- und die Thierwelt. […] Endlich in der Melodie, in der hohen, singenden, das Ganze leitenden und mit ungebundener Willkür in ununterbrochenem, bedeutungsvollem Zusammenhange eines Gedankens von Anfang bis zum Ende fortschreitenden, ein Ganzes darstellenden Hauptstimme, erkenne ich die höchste Stufe der Objektivation des Willens wieder, das besonnene Leben und Streben des Menschen.“[15]




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