Die Welt als Wille
Der Vorstellungswelt liegt der Wille zugrunde, den Schopenhauer als grund- und ziellosen blinden Drang versteht. Er stuft den Willen nach den Gegebenheiten seines Wirkens ab, spricht von Ursachen, wenn die Wirkung ihnen gemäß ist, wie z. B. beim elastischen Stoß, von Reizen, wenn die Wirkung ein Energiepotential entlädt, und von Motiven, wenn die Wirkung als Umsetzung bestimmter Absichten berechnet wurde.
„Ich nenne nämlich Ursach, im engsten Sinne des Worts, denjenigen Zustand der Materie, der, indem er einen andern mit Nothwendigkeit herbeiführt, selbst eine ebenso große Veränderung erleidet, wie die ist, welche er verursacht […] Ich nenne dagegen Reiz diejenige Ursach, die selbst keine ihr angemessene Gegenwirkung erleidet […] Der Reiz hält das Mittel, macht den Übergang zwischen dem Motiv, welches die durch das Erkennen hindurchgegangene Kausalität ist, und der Ursach im engsten Sinn.“[6]
In diesen Formen also bestimmt der Wille alle Vorgänge der organischen und anorganischen Natur. Er objektiviert sich in der Erscheinungswelt als Wille zum Leben und zur Fortpflanzung. Diese Lehre vom „Primat des Willens“ bildet die zentrale Idee der schopenhauerschen Philosophie, sie hatte weitreichenden Einfluss und begründet die Aktualität von Schopenhauers Werk.
Willensfreiheit kennt Schopenhauer, der sich wiederholt mit unterschiedlichem Resultat mit Augustinus auseinandersetzte, nur gemäß seiner berühmt gewordenen These: „Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.“ Jeglichem Handeln liegt immer und stets der Wille, das heißt das Wollen zu Grunde. In der streng kausal geordneten empirischen Welt, der Welt der Vorstellung, ist kein Platz für einen ohne rein-empirische Ursache handelnden Menschen, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass dies unserer Denkweise widerspräche, sondern in dem tieferen Sinne, dass der Wille sich in allen seinen Teilen gemäß dem Gesetz der Kausalität manifestiert.
Im Gegensatz zu Berkeley sieht Schopenhauer in der Kausalität kein bloßes gedankliches Konzept, sondern den Willen selbst, welchen zu deuten das Werk des Verstandes ist. Frei ist der Wille nur insofern, als ihm nichts vorschreibt zu sein, was er ist (d. h. dass die Naturgesetze zwar alles bestimmen, was passiert, selbst aber durch kein Gesetz so sind, wie sie sind). Diese Freiheit hat der so verstandene Wille demnach nur vor seiner Manifestation, welche selbst nichts weiter als sein wirksam gewordener Ausdruck ist. Im Falle des Menschen ist dessen wirkendes Wollen durch seinen „Charakter“ – als angeboren und unveränderlich gedacht – bestimmt, welcher willkürlich ist, also aus keinem tieferen Grund existiert. Nur diesem Charakter gemäß kann einer wollen.
Dennoch spricht Schopenhauer von einer intelligiblen Willensfreiheit: Wenn das Subjekt den zugrunde liegenden Willen erkennt, kann es ihn in bestimmten Momenten der Kontemplation, beispielsweise durch intensiven Kunstgenuss, verneinen. Dies bezeichnet Schopenhauer als Zustand der Melancholie.
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